Der Radkreuzstein vom Voßberg
Etwa 3,5 km vom Ortskern Reriks (Mecklenburg-Vorpommern, Landkreis Rostock, Nordwest) entfernt, befindet sich das Großsteingrab Voßberg. Man verlässt Rerik in Richtung Neubukow und durchquert die kleine Ortschaft Blengow in Richtung Blengow-Ausbau. Dort liegt rechter Hand gut sichtbar auf einer kleinen Erhebung mit drei majestetischen Linden die Grabanlage. Eine Parktasche für zwei bis drei Fahrzeuge befindet sich unmittelbar am Feldrand.
genauen Standort in Google Maps anzeigen …
Dieses kulturgeschichtliche Denkmal von hohem Rang wurde im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zerstört. In den finden wir Berichte der Prähistoriker Lisch und Beltz. Lisch [1] berichtet 1872 von einem Hügel, der schon Ackerland war und der keine Steinsetzung erkennen ließ. Beltz [2] bezog sich 1901 auf den Bericht von Lisch und verortete die Ausgrabung fälschlicherweise auf den Voßberg. Der Voßberg konnte aber 1871 zum Zeitpunkt der Ausgrabung kein Ackerland gewesen sein. Die Linden müssen schon über 70 Jahre gestanden haben und das Hünenbett lag mit Sicherheit auch schon frei. Ggf. stand auch schon ein Vermessungspunkt auf dieser Anhöhe. Trotzdem bezog sich auch Spockhoff [3] 1967 auf die Berichte von Lisch und Beltz und verband die 1871er Ausgrabung, die richtigerweise eine durch Gutsbesitzer Beste durchgeführte Beseitung einer 300 m entfernten Anlage war (siehe auch Ortsakte Blengow [4]), als quergestellte Kammer mit dem Hünenbett. Er fand allerdings nur noch einen Tragstein inmitten des Hünenbettes und einen Deckstein am nördlichen Ende. Bis auf die von Spockhoff beschriebene Verfüllung der Anlage ein einigermaßen identisches Bild wie heute. Allerdings verschwand der Deckstein irgendwann zwischen 1967 und 1974, obwohl die Anlage ab dem 15.02.1968 unter Denkmalschutz stand.
Dass wir heute noch derartige Anlagen rings um Rerik bestaunen dürfen, verdanken wir hauptsächlich den Rerikern Bodendenkmalpflegern Andreas Magerfleisch und Ernst Krüger und unserem verstienstvollen Kreisbodendenkmalpfleger (i.R.) Volker Häußler aus Kühlungsborn, der sich seit seiner Pensionierung ehrenamtlich sehr intensiv für den Erhalt unserer Kulturdenkmäler in der Region engagiert. Diesen drei Bodendenkmalpflegern ist es auch zu verdanken, dass der Radkreuzstein vom Voßberg immer wieder Menschen in seinen Bann zieht.
Am 20.01.1974 meldete Herr Magerfleisch dem damaligen Leiter der Bodendenkmalpflege, Adolf Hollnagel die Wiederentdeckung des verschwundenen Decksteins. Er lag nur 4 m westlich neben dem Hünenbett im Acker etwa 20 cm tief versenkt und wurde wenig später mit einer Planierraupe an seinen jetzigen Platz geschoben. Erst einige Zeit später entdeckte er die ersten Schälchen und Radkreuze auf dem Stein. Prof. Dr. Ewald Schuldt und Andreas Magerfleisch führten im Spätherbst 1981 eine genaue Untersuchung durch und dokumentierten vier Radkreuze.
Foto: Ortsakte Blengow [4]
Am 02.09.1991 führten Volker Häußler und Ernst Krüger erneut eine Untersuchung durch. Dazu schrieb Herr Häußler in die Fundmeldung [4]:
… Bei der Neuaufnahme der Anlage für die Kreisbodendenkmalliste, stellten wir fest, dass der Deckstein insgesamt 7 Radkreuze und 14 Schälchen trägt. Neben dem neu entdeckten Stein mit Radkreuzen von Mechelsdorf verfügt damit die Gemeinde um die bisher einzigen bronzezeitlichen Bildsteine an der Südküste der Ostsee.
Zeichnung: Volker Häußler [4]
Beim Besuchen der Anlage am. 20.04.2004 durch Dipl.-Ing. Peter Siegmüller und am 03.11.2004 durch Dr. Segschneider, Steffen Hauke und Volker Häußler wurde weitere vier Radkreuze entdeckt. Hier ein Auszug aus der Fundmeldung [4]:
Nach einem kurzen, leichten Regenschauer, dann sonnigem Wetter und nachmittags gegen 16.00 Uhr entdeckte Herr Siegmüller auf der Oberseite neben den sieben bekannten Radkreuzen zwei weitere, die sich in seinen zur Verfügung gestellten Aufnahmen deutlich abzeichnen.
Damit müssen wir jetzt mit min. 9 Radkreuzen rechnen.
Bei der Betrachtung der Aufnahme vom 02.09.1991 sind die beiden nun entdeckten Radkreuze mit dem neuen Kenntnisstand auch auszumachen. Wir haben sie aber damals nicht erkannt.
Bei abendlichen Lichtbedingungen zeigten sich am 03.11.2004 auf der westlichen Hälfte des Steines zwei weitere Radkreuze …
Foto: Volker Häußler [4]
Meine erste Begegnung mit dieser Grabanlage war während einer Führung von Volker Häußler im Rahmen unserer Kreisarbeitsgruppe Ur- und Frühgeschichte im Jahre 2012. Ich sah den Stein und ich sah nicht ein einziges Radkreuz. Ein paar sehr flache Schälchen, ja – aber Radkreuze? Auch bei späteren Besuchen entdeckte ich keine. Ich schaute immer wieder auf die Zeichnung der Infotafel und anschließend auf den Stein. Nichts! Von Herrn Häußler erfuhr ich inzwischen, dass die Bilder in der Tat nur noch bei besonderen Lichtverhältnissen beobachtet werden können. Ganz flach auftreffendes Schräglicht, wie man es bei Sonnenauf- oder -untergang hat, und eine feuchte Oberfläche wären optimal. Am 09.06.2016 bin ich also mit Fotoapparat, Stativ und Gießkanne zum Voßberg. Und in der Tat traten die erhofften Konturen endlich in Erscheinung.
Das musste ich dann am 11.06.2016 gleich noch mal bei Sonnenaufgang wiederholen. Also 4:00 Uhr raus zum Voßberg. Selbstverständlich wieder mit Gießkanne.
So sieht man also schon wesentlich mehr. Motiviert durch diesen Erfolg habe ich dann noch ein Experiment bei Dunkelheit mit Kunstlicht (LED-Strahler) gemacht. Auch das ergab wieder brauchbare Bilder.
Diese Bilder lassen sich mittels Adobe Photoshop oder ähnlicher Software wunderbar kombinieren. Bei Bedarf kann man für gewisse Details dann bestimmte Fotos zu oder abschalten. Eine entsprechende Kombination sieht dann z.B. so aus:
Mit dieser Grundlage habe ich mich dann auch an die erste Zeichnung gewagt. Seltsamerweise läuft man bei der Interpretation der Strukturen immer wieder Gefahr, plötzlich überall Radkreuze und andere bildliche Ritzungen zu sehen. Ich habe versucht, bei der folgenden Zeichnung objektiv zu bleiben. Außer ein Radkreuz sind es alles bereits dokumentierte Zeichnungen. Gesehen habe ich aber tatsächlich wesentlich mehr bildliche Ritzungen.
Diese Bilder aus der Bronzezeit sind an der südlichen Ostseeküste einmalig. Bemerkenswert ist, dass im unmittelbaren Umkreis weitere ähnliche Felsritzungen vorhanden sind. Die Großsteingräber Gaarzer Hof 1, Neu Gaarz 2 und Mechelsdorf 1 sind auch mit Radkreuzen und Schälchen verziert. Auch der Radkreuzstein von Börgerende gehört zweifellos in dieses Ensemble. Im skandinavischen Raum gibt es aber sehr viel mehr Parallelen. Eine deutschsprachige Seite zum Thema findet man z.B. unter geschichte-skandinavien.de. Eine weitere Internetseite ist Felsritzungen von Lille Strandbygård. Fast schon einen Zwilling findet man auf dieser Seite.
Für mich ist dieser Stein heute noch das, was er früher sein sollte, nämlich ein „redender Stein“, nur verstehen wir seine Sprache nicht mehr. Offensichtlich gehören die Darstellungen in die Glaubenswelt der Bronzezeit. Was für damalige Zeit selbstverständlich, ist uns heute völlig fremd. Unsere Vorfahren haben ihre Wahrnehmungen strukturiert und bildlich dokumentiert. Mangels schriftlicher Überlieferungen bleibt uns heute jedoch nur eine vage Interpretation.
Gegebenfalls kann die Dokumentation und Verknüpfung dieser Bilder etwas mehr Licht ins Dunkle bringen. Demnächst werde ich versuchen, ob entsprechend dem dänischen Vorbild die Dokumentation der Felsritzungen in Mecklenburg-Vorpommern weiter ausgebaut werden kann. Die in Dänemark praktizierte Fronttage von Felsritzungen ist gegebenenfalls auch eine Methode, die hierzulande ohne größeren Aufwand bewerkstelligt werden kann. Auf alle Fälle sollte zweitnah etwas gegen das Verlieren dieser wichtigen Zeugnisse unserer Geschichte unternommen werden. In absehbarer Zeit werden wir dank Umweltgifte diese Bilder leider nicht mehr im Original bestaunen dürfen.
04.08.2016 Update:
Heute habe ich zusammen mit einem weiteren ehrenamtlichen Bodendenkmalpfleger mal eine Frottage versucht. Das Ergebnis überzeugt nicht wirklich. Aber wir haben Erfahrungen gesammelt, die uns für weitere Experimente in der Richtung noch nützlich werden könnten.
Literatur:
[1] Georg Christian Friedrich Lisch: Jahrbuch für Geschichte und Alterthumskunde, Band 37, 1872, Steingrab von Blengow, http://mvdok.lbmv.de/mjbrenderer?id=mvdok_document_00002351
[2] Robert Beltz: Jahrbuch für Geschichte und Alterthumskunde, Band 66, 1901, Hünengrab von Blengow (bei Neubukow), (Kat.=Nr. 4323-4328. St. 11-14. 111-114.), http://mvdok.lbmv.de/mjbrenderer?id=mvdok_document_00003296#b066_ppn348714653
[3] Ernst Sprockhoff: Atlas der Megalithgräber Deutschlands – Teil 2: Mecklenburg-Brandenburg-Pommern; in Kommission bei Rudolf Habelt Verlag, Bonn 1967, durch die Römisch-Germanische-Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts zu Frankfurt am Main, Atlas- und Textband
[4] Ortsakte Blegow, Untere Denkmalschutzbehörde, SB Denkmalpflege, Am Wall 3-5, 18273 Güstrow